Die Auswanderung nach Deutschland glich regelrecht einer Flucht. Wir hätten die Reise schon früher unternehmen können und zwar als es noch einfacher war ein Visum zu bekommen. Leider war zu dem Zeitpunkt meine Großmutter durch eine Erkrankung ans Bett gefesselt, weshalb wir und andere Verwandte väterlicherseits dort bleiben mussten. Als wir dann schließlich gingen, mussten wir viel von unserem Hab und Gut aufgeben oder viel Geld während der Reise bei den Grenzen abtreten. Viel war es nicht, da die Inflation das meiste Vermögen bereits verschlungen hatte.
In Deutschland angekommen, hatten wir bis auf unsere Koffer dann auch kein Geld mehr übrig und mussten schließlich von vorn anfangen.
Meine Eltern konnten sich durch ihren Fleiß und Ehrgeiz bereits nach etwa einem Jahr ein Auto leisten. Doch der Weg zu diesem Erstreben war vom Anfang an sehr steinig. Als meine Mutter erzählte, dass ihre Arbeitgeberin ihren Kindern zu erklären versuchte: "die Aussiedler sind doch auch nur Menschen", war schnell klar, was man hier über uns denkt. Fast täglich kam meine Mutter sehr erschöpft Heim und erzählte von ihrer erniedrigenden Arbeit, die ihr nicht nur die Kraft, sondern auch viele Nerven kostete. Ähnlich fühlte sich auch mein Vater bei seiner ersten und zweiten Arbeitsstelle. Es mussten erst mehrere Jahre vergehen, bis sich schließlich die Arbeitsbedingungen für sie verbessert haben.
Die Würde des Menschen ist (un-)antastbar?
Wenn man die Nachrichten zu den Flüchtlingsströmen heute verfolgt, weiß man oft nicht, wo die unantastbare Würde des Menschen, die in der deutschen Verfassung festgeschrieben ist, überhaupt anfängt und wo endet. Zum Beispiel als es hieß, dass viele ukrainische Flüchtlinge direkt an der Grenze abgefangen worden sind und statt ihnen zu helfen, wurde ihre Ahnungslosigkeit regelrecht ausgenutzt. Solche Ereignisse setzen dann meinem Glauben, sich für eine friedliche und demokratische Lebensform einzustehen, immer mehr Risse.Man merkt, dass die Schwächen der Menschen nach wie vor gerne ausgenutzt werden. Wie leicht es ist, einen Menschen in Not auszubeuten, haben fast alle meine Verwanden – die ebenfalls schon lange in Deutschland leben – auf ähnliche Weise erfahren dürfen.
Denn wenn man die Regeln und Pflichten in einem fremden Land nicht kennt, kann man den ahnungslosen Menschen alles Mögliche andrehen, was sie in Wirklichkeit nicht brauchen. So haben wahrscheinlich die meisten Aussiedler – zu denen auch wir zählen – entweder eine Versicherung oder ein Kredit abgeschlossen, was ihnen 30 Jahre später noch immer teuer zu stehen kommt. Durch diese Umstände ist es dann auch kein Wunder, dass die Betrogenen sehr skeptisch auf alle möglichen Verträge reagieren.
Das bürokratische Monster in meinem Kopf
Du kommst aus einem Land, in dem zuvor überwiegend Pragmatismus herrschte und musst plötzlich so viele bürokratischen Hürden meistern, dass dir nur noch schwindelig werden kann.Auch ich habe inzwischen gelernt, die Sprache der Bürokratie annähernd richtig zu übersetzen. Zwar gibt es auch für mich kein Zweifel, dass viele bürokratischen Regeln ihre Daseinsberechtigung haben, doch jeder Kleinigkeit einen eigenen zertifizierten Stempel aufzudrücken, verkompliziert alles doch nur noch unnötig, oder?! Am Ende bleiben dann nur noch verwirrte Menschen übrig, die irgendwann nicht mehr wissen wollen, was heute richtig und morgen falsch sein soll.
Am schlimmsten wird es jedoch dann, wenn hier nur noch von dem bürokratischen Monster (wie es oft genannt wird) die Rede ist.
Doch wovon sprechen wir hier eigentlich?
Angenommen die Bürokratie hätte die Aufgabe schweren Entscheidungen für die Menschen abzunehmen. Jeder kennt zwar die vertraglichen Grundregeln, nach deren Befolgen alles gut funktioniert, doch im Detail muss keiner wissen, wie die verwaltungstechnischen Grundsätze lauten. Irgendwann aber gelten diese Grundsätze nicht mehr, z.B. weil eine wirtschaftliche Entscheidung oder die Lebensbedingungen sich geändert haben. Nun wissen nur die Wenigsten, warum sie zum Beispiel kein Geld mehr bekommen sollen oder was früher erlaubt war, ist heute plötzlich strafbar.
Den betroffenen Menschen fällt es dann natürlich schwer diese kaum nachvollziehbaren neuen Regeln zu akzeptieren. Meistens betrifft es dann die arbeitenden Schichten, die sich ungerecht behandelt fühlen. Für diese Leute entstehen also neue Hürden, die sie sich nicht erklären können. Über eine lange Zeit warten sie vergebens auf Antworten. Stattdessen entsteht ein innerer Vakuum, der gefüllt werden möchte.
Irgendwann entwickeln sich schließlich unterschiedliche Meinungen, durch die sich ein neues Verständnis über die unerklärliche Welt formt. Doch je undeutlicher die eigene Ansicht wird, desto erleuchtender können leichte und oft auch populistische Erklärungen für Gewissheit sorgen. Selbst wenn die neuen Ideen verrückt klingen mögen, Hauptsache ist, dass Irgendjemand dich versteht und in der schweren Zeit auf deiner Seite steht.
Nun vergeht die Zeit allmählich und die Dialogbereitschaft mit dem System da oben nimmt langsam immer mehr ab. Das die Stimmung immer angespannter wird, kann niemand mehr leugnen. Nun soll Jemand wieder für Einigkeit sorgen. Doch leider: Zu spät! Die neuen Ansichten und Meinungen haben schon längst ihre eigene Dynamik entwickelt. Die Welt verändert sich, vor allem in den Köpfen der Menschen, die sich zunehmend abgehängt fühlen.
Es heißt natürlich nicht, dass diese Bürokratie (verleihen wir dieser mal ein Gesicht) gar keine Antworten bereitstellen wollte oder die ganze Zeit nur geschwiegen hat. Es ist vielmehr die fehlende gemeinsame Sprache, die einen Dialog erst möglich macht. Man spricht dann von einer bürokratisch geprägten Denkweise, für die man erst studiert haben muss, um ihr folgen zu können. Das bedeutet für Viele auch sich verbiegen zu müssen, um in die Welt des Gesetzes zu passen.
Natürlich werden sich da nicht alle für das formal korrekte Vokabular begeistern lassen. Denn schließlich spricht man hier von einem (bürokratischen) Monster. Und ein Monster hilft für Gewöhnlich nicht, sondern macht Angst und muss irgendwie bekämpft werden.
Wie bereits erwähnt, ist Bürokratie grundsätzlich nicht per se unbrauchbar oder schlecht. Diesem Konstrukt fehlt es nur an genügend Empathie, um auch die Leute abzuholen, die in ihren individuellen Ansichten irgendwo verfangen sind. Schließlich hat jeder Mensch eine eigene Lebensgeschichte, die nicht immer in ein vorgegebenes System passt. Deshalb sollte der bürokratische Akzent sich immer wieder neu anpassen dürfen. Wie in einer echten Demokratie bei der Jeder eine Stimme finden und diese nach Möglichkeit auch sichtbar machen kann. Und wenn diese Stimme sogar dazu bereit ist, Respekt und Toleranz zuzulassen, wird bestimmt auch die Fremdenfeindlichkeit nicht die Antwort auf diese vielen stimmungskillenden Fragen sein.
Kulturunterschiede vs. Herkunftsland
Nun gab es viel über meine Meinung zu der Bürokratie zu lesen, doch wenn ich die Vergangenheit insbesondere den Start in Deutschland beschreiben müsste, so kann ich leider auch hier nicht viel positives berichten. Obwohl meine Familie und ich dachten, dass wir uns schnell in das deutsche Leben integrieren werden, weil wir auch in Kirgisien eine vorwiegend deutsche Mentalität gelebt haben, so kam alles dann doch ganz anders. Vielleicht sind die ganzen Rosen schon an die ersten Aussiedler verteilt worden, die direkt nach dem Mauerfall hierher kamen. Für uns sind dann anscheinend nur noch Krümel übrig geblieben. Für den Rest – so war die Empfindung – mussten wir gefälligst arbeiten und uns den Platz erst verdienen.Natürlich waren wir auch Dankbar, dass wir hier aufgenommen wurden und uns nicht einem ungewissen Schicksal in Kirgisien stellen mussten. Dort, so sind wir uns alle in der Familie einig, hätten die meisten von uns es nicht lange überlebt.
Immer wieder werden wir auch heute noch von vielen als "die Russen" bezeichnen, obwohl unsere Geschichte einen anderen Hintergrund hat. Eine Aufklärung wäre möglich, doch nur wenige sind bereit sich unsere Geschichte vollständig anzuhören. Offenbar ist es einfacher Jemanden in Schubladen zu stecken; So braucht man dann auch nicht das eigene Weltbild in Frage zu stellen. Für gewöhnlich liegt es auch nicht einmal an einem Mangel der Intelligenz. Vielmehr ist hier eine geringe Aufgeschlossenheit gegenüber Menschen, mit einer ziemlich abweichenden Vergangenheit zu spüren. Auch das begünstigt eine unsichtbare Distanz zwischen Kollegen, vermeidlichen Freunden oder einfach nur Bekannten. Man denkt, man würde alles von dem Menschen um einem herum wissen, und dennoch weiß man irgendwie nichts vom Anderen. Sollte so eine echte Willkommenskultur wirklich aussehen?
Integration heißt Vertrauen aufbauen
Zu unserem großen Glück konnten meine Familie und ich uns inzwischen in Deutschland gut einleben. Die meisten unserer Freunde sind hier geboren und so richtig fremd fühlen wir uns mittlerweile selten. Sogar wenn man sich zur Zeit das Leben in Kirgisien oder Russland genauer ansieht, wird einem schnell deutlich, wie fremd einem das Leben dort inzwischen vorkommt.Trotzdem sehe ich die Entwicklung gegenüber der neu angekommenen Flüchtlinge mit sorgen. Diese Sorgen fangen darin an, dass für die meisten geflohenen Menschen nur wenig Zeit und Ressourcen aufgebracht werden kann, um alle richtig einbürgern zu können. Dabei spielt es noch nicht einmal eine wesentliche Rolle, ob die Bereitschaft zu einer Integration gewünscht ist oder nicht. Wenn die Menschen eine noch stärker missbilligende Erfahrung als wir durchmachen müssen, wird sich auch hier ganz sicher eine neue Art des Misstrauens aufbauen.
Fremdenfeindlichkeit ist dann nur eines der Keile, die man in der Beziehung zwischen Anwohner und Ankömmlingen vorfindet. Hinzu kommt noch eine Perspektivlosigkeit, die auch einen Fremden zum Langzeit Arbeitslosen machen kann. Oder die unzähligen Gebote und Verbote, die jedes ihrer Schritte kontrollieren sollen, verändern einen.
Kein Wunder, wenn dieser Mangel an Zutrauen irgendwann die Leute nur noch müde macht. Heißt es dann, man würde nur den Wünschen des Volkes nachkommen wollen, so offenbart sich daraus nur eine weitere Unsicherheit. Denn wäre diese Denkweise vorausschauend, so ließe sich auch hier ein 5 Jahresplan erstellen, während der sich eine friedliche gemeinsame Lebensweise aufbauen könnte.
Ich selbst bin der Meinung, dass eine Annäherungen immer auf Augenhöhe stattfinden sollte. Das kann zum Beispiel auch mithilfe gemeinsamer Projekte, wie ehrenamtlichen Tätigkeiten oder auch in einem sehr frühem Jobangebot geschehen.
Vielen meiner Verwandten haben nicht die Sprachkurse, sondern die Verantwortung für bestimmte Aufgaben geholfen die Sprache besser zu erlernen. Wir alle sollten inzwischen eingesehen haben, dass uns erst die Beständigkeit zum Beispiel in Form einer richtige Perspektive die Angst vor der Zukunft nehmen kann. Vor 30 Jahren haben wir es als selbstverständlich empfunden, dass nur durch Arbeit unsere Zukunft hier sicher ist. Wenn es dann heißt, dass erst die deutsche Sprache und das übernehmen der Kulturgewohnheiten dem Fremden ein Bleiberecht ermöglichen kann, dann sollte daraus nicht noch ein weiteres bürokratische Monster heranwachsen, den nicht einmal die hier geborenen Menschen alle verstehen. Zumindest für mich funktioniert das Zusammensein, dass auf Vertrauen basiert, erst durch eine ähnliche Behandlung für alle Menschen.
Wenn eine Missgunst durch scheinbares Willkommen überdeckt wird, merken das die Menschen sehr schnell. Denn alle Menschen verfügen über einen sehr feinen Radar, das schnell entscheidet, ob du Freund oder Feind bist. Selbst meine eigene allererste Begegnung mit den hier geborenen Deutschen prägte meine Erinnerung damit, dass wir hier nicht erwünscht waren. Dabei war ich doch erst 8 Jahre alt und stellte damit doch für Niemanden eine Gefahr dar!?
Fazit
Doch es gehört nicht zu meiner Wesensart, wenn die Geschichte hier in einem pessimistischem Unterton endet. Für mich und meine Familie ist das Leben in Deutschland zu einer richtig geglückten Ankunft geworden. Jeder hat so seine Höhen und Tiefen, wo man das eine oder andere gut oder schlecht findet. Tatsächlich kann ich mir inzwischen Nirgendwo mehr ein besseres Zuhause auf der Welt mehr vorstellen.So oft habe ich schon von einigen Leuten gehört, dass ein Leben in Deutschland entweder beschämend oder sinnlos geworden ist. Die Gründe für diese Unzufriedenheit sind auch irgendwo ein Stück nachvollziehbar. Andererseits habe ich mit den gleichen Menschen schon so viele schöne Momente erlebt und die fanden nicht immer nur in anderen Ländern statt. Es sind gerade diese Momente, an die wir unsere größten Hoffnungen setzen sollten und uns weniger von den schlimmen Erfahrungen einschüchtern lassen sollten.
Ich möchte natürlich auch Niemandem vorschreiben, wie sie oder er das Leben gestalten sollte. Vielmehr möchte ich nur sagen, dass auch mir und meiner Familie nicht immer nur Gutes widerfahren ist und trotz allem sind wir immer noch hier.
Sollten Sie den ersten Teil unserer dreiteiligen Reihe verpasst haben, können Sie es hier nachholen: Teil 1 / 3
Und den zweiten Teil finden Sie hier: Teil 2 / 3