Bevor ich nun das gemeinsame Leben zwischen den Deutschen und Kirgisen beleuchte, möchte ich erst ein wenig geschichtlichen Background über die deutschen Siedler aufgreifen:

Für die deutschen Siedler, die sich in der Sowjetzeit in Kirgisien, Kasachstan, Usbekistan, in russischen Gebieten und anderen Ländern aufhielten, begann die Reise etwa im 18ten Jahrhundert. Die Möglichkeit sich ein neues Zuhause zu suchen, verdankten sie auch der Zarin Katharina der Großen. Hauptsächlich die deutschen Landwirte erhielten so die Möglichkeit ihre Religion frei auszuleben und waren ebenso von verschiedenen Verpflichtungen (wie der Steuer) für eine längere Zeit befreit. Zu der Zeit gab es in Russland auch sehr viel unbewohntes Land, das nur darauf wartete neu entdeckt zu werden.

Nun wanderten diese Siedler quer durch Russland und bauten sich mit ihrem deutschen Knowhow ihre Lebensräume auf. Doch kaum glaubten sie sich an einem Ort sicher zu fühlen, wurden sie immer wieder in andere Orte vertrieben. Irgendwann waren diese Siedler überall in der Sowjetunion verstreut.

Anfang des 20. Jahrhunderts war die Zeit für die Siedler noch viel rauer geworden. Das damals bolschewistisch geprägte Russland hat die deutsch sprechenden Menschen offenbar als eine mögliche Gefahr gesehen. Dabei wurde ihnen nicht nur ihr Hab und Gut immer wieder weggenommen, es hieß sogar, dass viele Männer im bestimmten Alter deportiert und umgebracht worden sind. Hunger wurde ebenso für viele zu einer tödlichen Falle. Nur Diejenigen, die gestohlen haben oder zum Beispiel Klee von der Wiese aßen, überlebten. Die Geschichten sind voll von Grausamkeiten und Verachtungen, die vor allem gegenüber den Deutschen galten. Darum war es den Überlebenden auch nicht leicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Viele ihrer Erlebnisse blieben uns daher auch bis heute im Verborgen.

Doch es gab hin und wieder auch schöne Geschichten zu hören. Zum Beispiel erzählte die Tante meines Großvaters, dass sie und ihre drei Geschwister während des zweiten Weltkriegs getrennt wurden. Es vergingen Jahrzehnte und keiner wusste, an welchem Ort sich die Familienmitglieder befanden oder ob sie noch am Leben waren. Erst durch ein Zufall hat sie eine ihrer Schwester dann in einem Bus wiedergetroffen. Solche Ereignisse gaben ihnen dann wieder ein Stück Hoffnung zurück.

Im Laufe der Zeit gab es noch mehr solcher Deportationen, die dafür sorgten, dass einige ferne Verwandte entweder in Kirgisien, in Kasachstan oder anderen Ländern ihr Leben neu aufgebaut und gelebt haben. Ob das Leben für diese Urdeutschen bei den Kasachen, Usbeken, Russen und anderen Völkern anders als bei uns verlief, kann ich nur schwer beurteilen. Außerdem kann ich hier nur den Blickwinkel der deutsch-sowjetischen Bevölkerung skizzieren. Die Sichtweise von der kirgisisch-stämmigen Seite aus, muss ich hier leider unbekundet lassen.

Trotzdem erlaube ich hier mal einen kleinen Einblick zu dem Leben der deutschen Siedler, die über 100 Jahre zusammen mit den Kirgisen lebten.

Das gemeinsame Leben der Kirgisen und Deutschen

So wie ich von meiner Familie oft höre, gab es bei den Deutschen und den Kirgisen viele unterschiedliche Grundsätze und Traditionen. Die meisten deutsch stämmigen Leute waren in der Zeit der Sowjetunion als fleißige Menschen bekannt. Dieser Fleiß führte dann schnell zu einem größeren Wohlstand. Doch diese Besitztümer mussten sie aus verschiedenen historischen Gründen immer wieder abgeben und anschließend neu erbauen. Nicht umsonst hieß es dann für die meisten von Ihnen, dass Jeder für sein Leben hart arbeiten muss!

Außerdem waren die meisten deutschen Siedlungen sehr religiös geprägt. In der Regel war es die Kirche, die als erstes in der Siedlung errichtet worden ist. Diese Siedler verstanden sich daher vielmehr als eine große Gemeinde, für die es eine Selbstverständnis war, dass eine leidvolle Zeit oder sogar der Tod nicht das Ende des Lebens bedeutet.

Verglichen dazu waren die kirgisischen Lebensgewohnheiten eher nomadisch geprägt. Häuser aus Lehm und Backsteinen gab es zuvor nicht, sondern vielmehr flexible / mobile Zelte bzw. Jurten. Mit den noch bisher fremden deutschen Siedlern baute sich in Kirgisien dann eine neue Infrastruktur auf. Auch der Einfluss Russlands veränderte zunehmend das bislang nomadisch geprägte Leben der Kirgisen. Auch sie waren dann irgendwann in das industrielle Zeitalter hineingewachsen. Doch die Kirgisen gaben ihre Traditionen nicht einfach so auf. Die meisten ihrer früheren Lebensgewohnheiten lebten sie weiter, jedoch nur unter einem neuen Gewand. Schließlich gab es auch keinen Zwang sich den neuen Gewohnheiten dieser Fremden komplett hinzugeben.
Vom anderen Standpunkt aus, war es den Kirgisen auch nicht möglich, diese neuen Bewohner zu vertreiben. Schließlich wollte Russland von dieser wirtschaftlichen Symbiose ebenso profitieren.

Mit der Zeit nahmen die neuen Siedlungen immer größere Dimensionen an. Irgendwann erinnerte die Infrastruktur zum Teil einer urdeutschen Bauart und andererseits bildeten sich Architekturen, deren Grundzüge einer russischen Denkweise erinnerte. Im Laufe der Generationen bildeten sich so nach und nach die gleichen Ziele und Werte für Alle heraus. Trotz bestimmter Hierarchien und Ränge hat sich ein starkes Gemeinschaftsgefühl mit gewissen Einschränkungen entwickelt. Zum Beispiel wurden in der Schule alle Schüler gleich behandelt, doch für die Deutschen war es nicht erlaubt in Kirgisien zu studieren. Die Arbeit in der Industrie haben die Kirgisen und Deutsche gemeinsam verrichtet, doch die höheren Ämter durften nur kirgisische oder russischen Leute bekleiden. Wollte ein Urdeutscher studieren, um zum Beispiel Arzt zu werden, musste sie oder er dann nach Russland reisen.

Wie meine Mutter erzählt, war in Sibirien der Fleiß sogar sehr geschätzt worden, was ihr sogar ermöglichte sehr schnell zu einer leitenden Position aufzusteigen.

Doch die Verfolgung einer Karriere war für meine streng religiös geprägten Großeltern nicht wichtig. Noch bevor meine Mutter nach einer Ausbildung mit dem Studium beginnen konnte, musste sie sich den traditionellen Werten anpassen. Das lag dann wohl auch an den Lebensgewohnheiten, die in vielen deutschen Familien streng geregelt waren. Zum Beispiel wurde da schon im Alter von Anfang 20 geheiratet und noch bevor du Mitte 20 warst, hattest du bereits mehrere Kinder und ein selbst gebautes Haus. Bei dem Hausbau haben natürlich die Verwanden mit geholfen. Gleichzeitig haben die Meisten in den Kolchosen (Produktionsfirmen) gearbeitet. Außerdem hat so gut wie Jeder eine eigene Landwirtschaft und Viehzucht betrieben.

Wenn die Deutschen die Kirgisen auch noch als faul bezeichnet haben, so lag es dann eher an den eigenen Erwartungen, die wirklich hoch waren.
Doch auch diese Zeiten schienen sich allmählich zu ändern.

Russisch für alle

Als meine Eltern noch zu ihrer Zeit zu Hause sehr viel Deutsch gesprochen haben, war es in meiner Zeit eher üblich nur noch russisch zu sprechen. Auch unter den Verwanden habe ich einige Tanten und Onkels mit russischen Wurzeln, was zuvor eher sehr unüblich war. Noch während der Sowjetzeit war der russische Geschichtsunterricht schon fast das einzige, was auf dem Pflichtprogramm stand. Politische Wahlen gab es dort auch. Doch welcher Politiker für welches Programm stand, wusste irgendwie Niemand so genau. Also setzte man sein Kreuz bei einem Namen, den man vielleicht schon irgendwann mal gehört hat.

Die Schule war ein sehr disziplinierter Ort. Hier existierten keine mystischen Superhelden, die fliegen konnten oder an denen die Kugeln nur so abprallen. Es waren vielmehr die siegreichen russischen Kämpfer, wie Lenin, Stalin oder Puschkin. Keiner stellte seine Helden irgendwie in Frage. Zwar stand auch immer noch Deutsch- und Kirgisischunterricht auf dem Lehrplan, doch Russisch war die Nationalsprache für Alle! Außerdem gab es für Keinen einen Grund diese nationalen Regeln in Frage zu stellen.

Fall der Sowjetunion, Fall der Gemeinsamkeiten

Dann als die Sowjetunion plötzlich Geschichte war, entstand eine noch bis dahin unbekannte Missgunst gegenüber den Leuten mit deutschen Wurzeln. Als wäre ein Schalter umgelegt worden und wir waren plötzlich hier die Bösen. Durch die Sowjetunion existierte noch eine Wirtschaftskraft, durch die sich Jeder gut versorgt fühlte. Mit relativ günstigen Preisen konnten sich alle immer genug leisten, selbst dann, wenn man nicht arbeiten ging. Doch als jedes Land innerhalb der Sowjetunion ihrem eigenen wirtschaftlichen Schicksal überlassen wurde, ging die Stimmung der Bevölkerung immer weiter bergab. Inflation und ein stetiger Vermögensverlust hat die Menschen Tag für Tag ärmer gemacht. Vor allem die Deutschen, die dort Nichts zu melden hatten, waren nun die typischen Sündenböcke, denen man schnell die Schuld zuschieben konnte. Der Gedanke, dass sich alle Betroffenen mal zusammen setzen, um eine gemeinsame Lösung für neue Versorgungswege zu finden, war offenbar keine Option.

Nun fand hier nicht nur eine große Union ihr Ende, sondern ganz offensichtlich auch alle bisherigen Freundschaften, die sie vereinte.
Seit so vielen Generationen lebt man nun in Einigkeit und einer gewisser Harmonie und dann scheint die mühselig aufgebaute Integration plötzlich keine Rolle mehr zu spielen. Für die Kirgisen musste also eine Veränderung her. Doch diese Veränderung hatte keinen Platz mehr für Menschen, die sich den kirgisischen Traditionen nicht anschließen lassen.


Sollten Sie den ersten Teil unserer dreiteiligen Reihe verpasst haben, können Sie es hier nachholen: Teil 1 / 3


Zum finalen Part der 3-teiligen Reihe gelangen Sie auch hier: Teil 3 / 3